“Millionen Menschen leben weltweit in Elend und Not, weil soziale Mindeststandards wie das Verbot von Zwangs- und Kinderarbeit missachtet werden. 79 Millionen Kinder arbeiten weltweit unter ausbeuterischen Bedingungen: in Textilfabriken, Steinbrüchen oder auf Kaffeeplantagen – auch für Produkte in den westlichen Ländern” (https://www.bmz.de/de/themen/lieferkettengesetz).

Wie der Einsturz des Fabrikgebäudes Rana Plaza in Bangladesch 2013 gezeigt hat, tragen auch Unternehmen in Deutschland eine Mitverantwortung. Um dies zu ändern, hat der Bundestag das Lieferkettengesetz verabschiedet, das den Schutz grundlegender Menschenrechts- und Umweltstandards in globalen Lieferketten verbessern soll. Danach müssen Unternehmen dafür sorgen, dass Menschenrechte und Umweltstandards in ihren Lieferketten eingehalten werden

Aber jetzt bekommt die FDP erst einmal kalte Füße und will die Umsetzung eines EU-Lieferkettengesetzes verhindern (https://taz.de/FDP-Blockade-von-Lieferkettenrichtlinie/!5983055/). Verkennt die Ampelpartei FDP die globalen Realitäten einer neu entstehenden multipolaren Weltordnung? Ein neues Buch im Beck-Verlag gibt erste Antworten.

„Wir sind nicht alle. Der Globale Süden und die Ignoranz des Westens“ von Johannes Plagemann und Henrik Maihack erklärt, warum der Westen nicht mehr der Nabel der Welt ist und wie und warum Multipolarität für viele Länder des Globalen Südens längst Realität und Zukunftsversprechen geworden ist.

Die Länder des Südens sind von den bestehenden internationalen Handels- und Finanzregimen enttäuscht, stellen die Autoren fest. Aus ihrer Sicht wäre eine gerechte Handelspolitik auch kluge Geopolitik. Gegenwärtige Handelsregime, wie das der Europäischen Union, erschweren nach wie vor die Weiterverarbeitung von Rohstoffen vor Ort, während sie die Anreize für den Direktexport von Rohstoffen erhöhen (https://fairafric.com/pages/fairchain). Die vom Westen im Rahmen Strukturanpassungsprogramme forcierten Ausgabenkürzungen, Privatisierungen und Marktliberalisierungen haben die Länder des globalen Südens genau an der Wirtschafts- und Sozialpolitik gehindert, die den Westen selbst zu seinem Reichtum geführt hat: dem Schutz von Industrien, die gut bezahlte Arbeitsplätze schaffen, und dem gleichzeitigen Ausbau der Daseinsvorsorge. Ohne solche Schutzmechanismen wie Zölle oder Kapitalverkehrskontrollen verharren die Länder des Südens in der Nische der Rohstoffexporteure, was ihre Währungen aufwertet und den Export verarbeiteter Produkte weiter erschwert.

AkteurInnen im globalen Süden, wie die neu formierten Gewerkschaften in Bangladesch, wollen auch verbindliche Haftungspflichten für globale Unternehmen entlang der gesamten Lieferkette. Die Autoren sehen darin explizit einen wichtigen Pfeiler zur Unterstützung der Zivilgesellschaft und zur Stärkung des Ansehens des Westens. Das ist auch geopolitisch bedeutsam, da der relative Verlust an internationaler Gestaltungsmacht des Westens unumkehrbar ist, finden die Autoren. "Der Luxus, die Weltwirtschaft mittels transatlantischer (plus Japan) Kaminzimmerdiplomatie im Rahmen der G7 zu bändigen, gehört der Vergangenheit an. Der kurze unipolare Moment, in dem der Westen über globale Regeln und Konflikte fast im Alleingang entscheiden konnte, ist endgültig vorbei." Für die Länder des Südens ist Multipolarität ein emanzipatorisches Versprechen, das das Potenzial für eine gerechtere und damit demokratischere internationale Ordnung zu bieten scheint.

Die Multipolarität zeige sich auch in Haltungen gegenüber dem Ukraine-Krieg. Insgesamt leben zwei Drittel der Weltbevölkerung in Ländern, die sich entweder neutral oder Russland freundlich zum Krieg in der Ukraine geäußert haben. Sie beteiligen sich nicht an den Sanktionen, weil für die meisten Länder der Welt andere Krisen, wie der Krieg im Tigray, wo 2022/23 mindestens 600.000 Menschen ums Leben gekommen sind, wesentliche bedrohlicher sind als ein Landkrieg in Europa (https://www.researchgate.net/profile/Jan-Nyssen/publication/367272415_Documenting_the_civilian_victims_of_the_Tigray_war/links/63dce751c97bd76a82613aae/Documenting-the-civilian-victims-of-the-Tigray-war.pdf).

Die Multipolarität birge Gefahren (https://www.iz3w.org/artikel/autoritarismus-multipolare-weltordnung). Mehr Gewicht für die Regierungen von Ländern des Globalen Südens in den internationalen Institutionen (WHO, UN, IWF usw.) bedeute nicht automatisch eine gerechtere Welt, stellen die Autoren fest. Aber die Länder des Südens sind heute vor allem pragmatisch blockfrei, weil durch Blockfreiheit außenpolitische Optionen zunehmen, die Autonomie, reduzierten Abhängigkeiten und erhöhten Resilienz schaffen.

Die Mehrheit der Menschen im Globalen Süden wünschen sich nach wie vor politische Freiheiten, wie es sie in New York, Berlin oder Tokio gibt, konstatieren die Autoren, nicht wie in Peking oder Moskau. Und in den allermeisten Staaten des Globalen Süden wird die Dominanz Chinas genauso wie die der USA abgelehnt.

Es wird ein reformierter Multilateralismus verlangt. Ein fairer Multilateralismus, der globale Krisen lösen kann und alle einbezieht. Dies sei kompliziert, aufwendig und oft erfolglos. Aber so sehe sie aus, die multipolare Welt von heute.

Die Autoren bieten in ihrem Buch keine einfachen Lösungen an. Aber sie zeigen, dass Lieferketten eine von vielen globalen Verbindungen sind, die gestaltet werden müssen, wenn die Welt für alle gerechter werden soll. „Wir sind nicht alle“ ist ein Plädoyer an den Westen, mit den Ländern des Südens konstruktiv und im gegenseitigen Interesse zusammenzuarbeiten.